Der Bundesgerichtshof

Zusatzversorgung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst: Bundesgerichtshof bestätigt Wirksamkeit der im März 2018 erneut geänderten Startgutschriftenregelung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) für rentenferne Versicherte

Ausgabejahr 2023
Erscheinungsdatum 20.09.2023

Nr. 161/2023

Urteil vom 20. September 2023 - IV ZR 120/22

Der unter anderem für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit heute verkündetem Urteil die Wirksamkeit der im März 2018 erneut geänderten Startgutschriftenregelung für rentenferne Versicherte der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) bestätigt.

Hintergrund:

Die VBL hat die Aufgabe, Angestellten und Arbeitern der an ihr beteiligten Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Wege privatrechtlicher Versicherung eine zusätzliche Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Mit Neufassung ihrer Satzung (VBLS) vom 22. November 2002 stellte die VBL ihr Zusatzversorgungssystem rückwirkend zum 31. Dezember 2001 (Umstellungsstichtag) von einem an der Beamtenversorgung orientierten Gesamtversorgungssystem auf ein auf dem Punktemodell beruhendes, beitragsorientiertes Betriebsrentensystem um.

Die neugefasste Satzung enthält - auf der Grundlage entsprechender tarifvertraglicher Vereinbarungen - Übergangsregelungen zum Erhalt von bis zur Systemumstellung erworbenen Rentenanwartschaften. Diese werden als so genannte Startgutschriften den Versorgungskonten der Versicherten gutgeschrieben. Dabei werden Versicherte, deren Versorgungsfall zum Umstellungsstichtag noch nicht eingetreten war, in rentennahe und rentenferne Versicherte unterschieden. Grundsätzlich ist rentenfern, wer am 1. Januar 2002 das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Das betraf zum Umstellungsstichtag ca. 1,7 Mio. Versicherte.

Die Startgutschrift rentenferner Versicherter nach § 79 Abs. 1 VBLS i.V.m. § 18 Abs. 2 BetrAVG wird - vereinfacht dargestellt - in zwei Rechenschritten ermittelt: In einem ersten Rechenschritt wird die so genannte Voll-Leistung berechnet, die die vom Versicherten bei der VBL maximal erzielbare, fiktive Vollrente beschreibt. Dazu wird von der dem Versicherten zum Umstellungsstichtag fiktiv zustehenden Gesamtversorgung, der so genannten Höchstversorgung, dessen voraussichtliche Grundversorgung, d.h. seine gesetzliche Rente, in Abzug gebracht. In einem zweiten Schritt wird rentenfernen Versicherten als Startgutschrift zunächst für jedes Jahr ihrer Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes anteilig ein Prozentsatz (sog. Anteilssatz) dieser Voll-Leistung gutgeschrieben.

Der Anteilssatz betrug zunächst 2,25 %. Diese Übergangsregelung erklärte der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 14. November 2007 (IV ZR 74/06) wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für unverbindlich und beanstandete insbesondere eine gleichheitswidrige Benachteiligung von Versicherten mit langen Ausbildungszeiten (dazu Pressemitteilung 173/2007). Daraufhin ergänzten die Tarifvertragsparteien und ihnen folgend die VBL die Startgutschriftenregelung um eine Vergleichsberechnung in § 79 Abs. 1a VBLS, die unter näher geregelten Voraussetzungen zu einer Erhöhung der bisherigen Startgutschriften rentenferner Versicherte führen konnte. Mit Urteil vom 9. März 2016 (IV ZR 9/15) entschied der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, dass die solcherart geänderte Übergangsregelung weiterhin zu einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Ungleichbehandlung führe und deshalb ebenfalls unverbindlich sei (dazu Pressemitteilung 53/2016).

Mit Änderungstarifvertrag von Juni 2017 einigten sich die Tarifvertragsparteien darauf, im Rahmen der Ermittlung der Startgutschrift den bisherigen Anteilssatz von 2,25 % durch einen variablen Anteilssatz zu ersetzen. Dieser beträgt, in Abhängigkeit von den Pflichtversicherungszeiten, die der jeweilige Versicherte bis zum Eintritt des 65. Lebensjahrs erreichen kann, zwischen 2,25 % und 2,5 %. Die VBL übernahm diese Neuregelung mit Wirkung zum März 2018 in § 79 Abs. 1 Satz 3 bis 8 ihrer Satzung.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Die hiesige Klägerin ist rentenferne Versicherte bei der beklagten VBL und bezieht von dieser seit August 2014 eine Versorgungsrente. Sie hält auch die nochmals geänderte Übergangsregelung für unwirksam und erstrebt eine nach dem vor der Systemumstellung geltenden Satzungsrecht ermittelte Rente, hilfsweise eine abweichende Berechnung ihrer Startgutschrift unter Berücksichtigung verschiedener ihr günstiger Berechnungsgrundlagen und äußerst hilfsweise die Feststellung der Unverbindlichkeit der ermittelten Startgutschrift. Ihre Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat die nunmehrige Übergangsregelung für wirksam gehalten und insbesondere einen Verstoß der Startgutschriftenregelung gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie eine Diskriminierung rentenferner Versicherter wegen ihres Lebensalters und ihres Geschlechts verneint.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer Grundsatzentscheidung vom heutigen Tag die Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass die für rentenferne Versicherte getroffene Übergangsregelung wirksam ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine anderweitige Berechnung ihrer Startgutschrift.

Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass bei der Ermittlung der Startgutschrift für die Berechnung der Voll-Leistung die von der Höchstversorgung in Abzug zu bringende voraussichtliche gesetzliche Rente des Versicherten nicht individualisiert, sondern nach dem bei der Berechnung von Pensionsrückstellungen allgemein zulässigen Verfahren (dem so genannten Näherungsverfahren) zu ermitteln ist.

Die Anwendung des Näherungsverfahrens verstößt namentlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Zwar kann sich die Anwendung des Näherungsverfahrens im Vergleich zu einer individualisierten Berechnung der fiktiven gesetzlichen Rente ungünstig auswirken. Die mit dieser Ungleichbehandlung im Einzelfall verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten sind aber hinzunehmen. Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen und der Regelung hochkomplizierter Materien, wie der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, können typisierende und generalisierende Regelungen zulässig sein. Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens die verfassungsmäßigen Grenzen einer zulässigen Typisierung und Standardisierung einhält.

Die Anwendung des Näherungsverfahrens bewirkt ferner keine unzulässige Benachteiligung wegen des Geschlechts. Insbesondere liegt keine unzulässige Benachteiligung weiblicher rentenferner Versicherter vor. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zeigen, dass sich die Anwendung des Näherungsverfahrens nicht auf einen signifikant höheren Anteil der weiblichen Versicherten ungünstig auswirkt. Infolge von Lücken in der Erwerbsbiografie, etwa aufgrund von Kinderbetreuungszeiten, benachteiligte weibliche (und männliche) Versicherte werden zudem dadurch begünstigt, dass bei der Berechnung der Gesamtversorgung zu ihren Gunsten ebenfalls eine lückenlose Erwerbsbiografie unterstellt wird.

Aus Rechtsgründen ist ebenfalls nicht zu beanstanden, dass der Startgutschriftenermittlung nunmehr ein gleitender Anteilssatz von 2,25 % bis 2,5 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung zugrunde liegt. Durch die Einführung des gleitenden Anteilssatzes können bei einem angenommenen Renteneintritt mit 65 Lebensjahren nunmehr - anders als noch nach der Vorgängerregelung - auch Versicherte mit einem Diensteintrittsalter zwischen 20 Jahren und sieben Monaten und 25 Jahren theoretisch eine Startgutschrift von 100 % der Voll-Leistung und damit die höchstmögliche Versorgung erreichen. Damit entfällt insbesondere die bisherige Benachteiligung von Versicherten mit längeren Ausbildungszeiten, die nach einem Studium oder einer Ausbildung außerhalb des öffentlichen Dienstes üblicherweise bis zum 25. Lebensjahr in den öffentlichen Dienst eintreten.

Es verstößt weder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz noch bewirkt es eine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters, dass Versicherten mit einem Eintrittsalter von mehr als 25 Jahren infolge der Deckelung des Anteilssatzes auf 2,5 % weiterhin die höchstmögliche Versorgung auch theoretisch nicht erreichen können. In Anbetracht eines typischen Erwerbslebens von mindestens 40 Jahren ist es nicht zu beanstanden, dass Versicherte die höchstmögliche Versorgung lediglich unter der Voraussetzung einer erreichbaren Pflichtversicherungszeit von mindestens 40 Jahren erzielen können. Dies gilt auch, soweit diese Versicherten keine Erhöhung der Startgutschrift nach § 79 Abs. 1a VBLS erhalten. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird die Regelung in § 79 Abs. 1a VBLS lediglich im Hinblick auf das schützenswerte Vertrauen derjenigen Versicherten aufrechterhalten, denen nach der bisherigen Vergleichsberechnung noch ein Zuschlag zusteht.

Der gleitende Anteilssatz bewirkt ferner keine neue unzulässige Ungleichbehandlung wegen des Alters der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den öffentlichen Dienst eingetretenen Versicherten. Zwar fällt für diese Versicherten der gleitende Anteilssatz - begrenzt auf mindestens 2,25 % - desto kleiner aus, je jünger sie in den öffentlichen Dienst eingetreten sind. Das bewirkt jedoch unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien keine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters, sondern wahrt das der betrieblichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst zugrundeliegende Prinzip, die Betriebstreue des Versicherten im öffentlichen Dienst zu honorieren.

Die Übergangsregelung für rentenferne Versicherte ist schließlich auch unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht zu beanstanden. Eine einseitige Belastung bestimmter Versichertengruppen wie bei der früheren Übergangsregelung liegt nicht mehr vor.

Vorinstanzen:

Landgericht Karlsruhe - Urteil vom 29. Mai 2020 - 6 O 184/19

Oberlandesgericht Karlsruhe - Urteil vom 17. März 2022 - 12 U 106/20

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 79 VBLS:

(1) 1Die Anwartschaften der am 31. Dezember 2001 schon und am 1. Januar 2002 noch Pflichtversicherten berechnen sich nach § 18 Abs. 2 BetrAVG, soweit sich aus Absatz 2 nichts anderes ergibt. … 3Bei Anwendung von Satz 1 ist an Stelle des Faktors von 2,25 v. H. nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG der Faktor zu berücksichtigen, der sich ergibt, indem 100 v. H. durch die Zeit in Jahren vom erstmaligen Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ende des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, geteilt werden. 4Die Zeit in Jahren wird aus der Summe der (Teil-)Monate berechnet. 5Ein Teilmonat wird ermittelt, indem die Pflichtversicherungszeit unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Tage des betreffenden Monats durch 30 dividiert wird. 6Die sich nach Satz 4 und 5 ergebenden Werte werden jeweils auf zwei Nachkomma-stellen gemeinüblich gerundet. 7Der sich nach Satz 3 durch die Division mit der Zeit in Jahren ergebende Faktor wird auf vier Nachkommastellen gemeinüblich gerundet. 8Der Faktor beträgt jedoch mindestens 2,25 v. H. und höchstens 2,5 v. H.

(1a) 1Bei Beschäftigten, deren Anwartschaft nach Absatz 1 (rentenferne Jahrgänge) berechnet wurde, wird auch ermittelt, welche Anwartschaft sich bei einer Berechnung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG unter Berücksichtigung folgender Maßgaben ergeben würde:

1. 1Anstelle des Vomhundertsatzes nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG wird ein Unverfallbarkeitsfaktor entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG errechnet. 2Dieser wird ermittelt aus dem Verhältnis der Pflichtversicherungszeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum 31. Dezember 2001 zu der Zeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird. 3Der sich danach ergebende Vomhundertsatz wird auf zwei Stellen nach dem Komma gemeinüblich gerundet und um 7,5 Prozentpunkte vermindert.

2. 1Ist der nach Nummer 1 Satz 3 ermittelte Vomhundertsatz höher als der ohne Anwendung des Absatzes 1 Satz 3 nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG berechnete Vomhundertsatz, wird für die Voll-Leistung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG ein individueller Brutto- und Nettoversorgungssatz nach § 41 Abs. 2 und 2b d.S.a.F. ermittelt. …

2Ist die unter Berücksichtigung der Maßgaben nach den Nummern 1 und 2 berechnete Anwartschaft höher als die Anwartschaft nach Absatz 1, wird der Unterschiedsbetrag zwischen diesen beiden Anwartschaften ermittelt und als Zuschlag zur Anwartschaft nach Absatz 1 berücksichtigt. …

§ 18 Betriebsrentengesetz (BetrAVG)

(2) Bei Eintritt des Versorgungsfalles vor dem 2. Januar 2002 erhalten die in Absatz 1 Nummer 1 und 2 bezeichneten Personen, deren Anwartschaft nach § 1b fortbesteht und deren Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalles geendet hat, von der Zusatzversorgungseinrichtung aus der Pflichtversicherung eine Zusatzrente nach folgenden Maßgaben:

1. 1Der monatliche Betrag der Zusatzrente beträgt für jedes Jahr der aufgrund des Arbeitsverhältnisses bestehenden Pflichtversicherung bei einer Zusatzversorgungseinrichtung 2,25 vom Hundert, höchstens jedoch 100 vom Hundert der Leistung, die bei dem höchstmöglichen Versorgungssatz zugestanden hätte (Voll-Leistung). …

Karlsruhe, den 20. September 2023

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501

Ergänzende Dokumente

Urteil des IV. Zivilsenats vom 20.9.2023 - IV ZR 120/22 -