Pressemitteilung 120/2004 des Bundesgerichtshofes
Ausgabejahr 2004
Erscheinungsdatum 21.10.2004
Nr. 120/2004
Bundesgerichtshof zur Haftung des Jugendamts bei Mißhandlung von Pflegekindern durch Pflegeeltern
Der u.a. für das Amtshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einem Schadensersatzprozeß eines Pflegekindes gegen einen baden-württembergischen Landkreis (Jugendamt) wegen während des Aufenthalts in einer Pflegefamilie erlittener Mißhandlungen die von den Vorinstanzen (Landgericht und Oberlandgericht Stuttgart) ausgesprochene Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes (25 000 €) und die Feststellung einer Ersatzpflicht wegen sämtlicher materieller und künftiger immaterieller Schäden des Klägers bestätigt.
Der im Juni 1989 geborene Kläger war im Dezember 1990 vom damals zuständigen Kreisjugendamt Hof (Bayern) mit Einverständnis der sorgeberechtigten Mutter einem Ehepaar zur Vollzeitpflege zugewiesen worden. Im Herbst 1993 verzog die Pflegefamilie in einen Ort, der zum Bezirk des Beklagten gehört. Mit Schreiben vom 7. April 1994 ersuchte das Landratsamt Hof das Jugendamt des beklagten Landkreises um "Übernahme des Hilfefalles". Der Beklagte verweigerte jedoch in der Folgezeit die Übernahme der Zuständigkeit, weil nicht sicher sei, ob der weitere Aufenthalt des Klägers bei seinen Pflegeeltern überhaupt von Dauer sein werde. Nach einer sich über Jahre hinziehenden schriftlichen Auseinandersetzung der beiden Jugendämter über die Frage der örtlichen Zuständigkeit für den Kläger, erklärte sich der Beklagte erst zum 1. Juni 1997 zur Übernahme der jugendamtlichen Betreuung des Klägers bereit.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in der Obhut der Pflegeeltern insgesamt drei Vollzeitpflegekinder sowie drei eheliche Kinder. Am 27. November 1997 starb das jüngste der drei Pflegekinder – ein fünfjähriger Junge -, und zwar, wie die ärztliche Untersuchung ergab, an Unterernährung. Hierbei stellte sich heraus, daß auch der Kläger und das dritte Pflegekind an extremem Untergewicht litten. Beide waren in einer nach Gewicht und Größe altersentsprechenden Verfassung von den Pflegeeltern aufgenommen worden, dann aber bald in ihrer Entwicklung hinter der statistisch zu erwartenden zurückgeblieben; der Kläger wog zuletzt mit acht Jahren bei einer Körpergröße von 104 cm, die der Durchschnittsgröße eines Vierjährigen entsprach, noch 11,8 kg. Ein normal entwickeltes Kind im Alter des Klägers wäre 130 cm groß und 23 kg schwer gewesen.
Die Pflegeeltern wurden 1999 vom Landgericht Stuttgart wegen Mordes in Tateinheit mit Mißhandlung von Schutzbefohlenen zu jeweils lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des Strafgerichts hatten sie während sie die eigenen Kinder gut versorgten - den Pflegekindern zu wenig, Minderwertiges oder gar nichts zu essen gegeben, sie aber auch eingesperrt und geschlagen. Nach den Sommerferien Mitte September 1997, als der abgemagerte Zustand der Pflegekinder nunmehr für jedermann sichtbar war, hatten die Pflegeeltern diese von der Außenwelt abgeschottet, insbesondere hatten sie den Kläger nicht mehr zur Schule geschickt. Sie hatten die permanente Unterernährung der Pflegekinder selbst in Kenntnis dessen fortgesetzt, daß dies zum Tode der Kinder führen werde.
Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger geltend gemacht, das Jugendamt des Beklagten habe seine ihm gegenüber obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten verletzt. Mit der Behauptung, bei einem früheren und ordnungsgemäßen Einschreiten der Bediensteten des Beklagten wäre sein Leiden in der Pflegefamilie aufgedeckt und vorzeitig beendet worden, hat er Zahlung eines Schmerzensgeldes von 25.000 € und die gerichtliche Feststellung verlangt, daß der Beklagte ihm sämtliche materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden ersetzen muß, die ihm durch den Aufenthalt bei den Pflegeltern seit September 1994 entstanden sind oder noch entstehen. Landgericht und Oberlandesgericht haben der Klage stattgegeben.
Die hiergegen gerichtete Revision des beklagten Landkreises blieb erfolglos.
Der Bundesgerichtshof hat die Auffassung des Berufungsgerichts bestätigt, daß das Jugendamt des Beklagten nach dem Umzug der Pflegefamilie in seinen Bezirk spätestens im Herbst den Kläger als zu betreuenden „Hilfefall“ hätte übernehmen müssen. Die tatrichterliche Würdigung, daß der Tatbestand des § 86 Abs. 6 des Sozialgesetzbuchs (SGB) VIII („Lebt ein Kind…zwei Jahre bei einer Pflegeperson und ist sein Verbleib bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten, so …wird …der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat“), gegeben war, ist nicht zu beanstanden.
Der Bundesgerichtshof ist auch der Auffassung des Berufungsgerichts beigetreten, daß das Jugendamt des Beklagten verpflichtet gewesen wäre, sich in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der (abgelehnten) Übernahme der jugendamtlichen Betreuung des Klägers – im Herbst 1994 - durch einen „Antrittsbesuch“ ein eigenes Bild von dem Pflegekind und der Pflegefamilie zu verschaffen. Die gesetzliche Grundlage dafür liegt in § 37 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, wonach das Jugendamt „den Erfordernissen des Einzelfalls entsprechend“ an Ort und Stelle überprüfen soll, ob die Pflegeperson eine dem Wohl des Kindes förderliche Erziehung gewährleistet. Ein Anlaß zu einer solchen Kontrolle ergab sich im Streitfall für das - erstmals für den Kläger zuständig gewordene – Jugendamt des Beklagten jedenfalls daraus, daß die Pflegefamilie aus dem Bezirk eines Hilfeträgers in den eines anderen Hilfeträgers (zumal in ein anderes Bundesland) umgezogen war, und daß mit einem solchen Umzug regelmäßig eine Änderung der Lebensumstände einhergeht.
Schließlich hat der Bundesgerichtshof die weitere Annahme des Berufungsgerichts gebilligt, daß bei pflichtgemäßem Verhalten des Beklagten (Übernahme der jugendamtlichen Betreuung des Klägers, verbunden mit einem „Antrittsbesuch“ spätestens im Herbst 1994) das schon damals auffällige Untergewicht des damals fünf Jahre und drei Monate alten Klägers (11, 5 kg; Größe: 90 cm) erkannt und daß durch daraufhin eingeleitete Nachforschungen die (weiterhin) eingetretenen Gesundheitsschäden des Klägers verhindert worden wären. Die insoweit vom Berufungsgericht vorgenommene tatrichterliche Würdigung ist schon deshalb nicht angreifbar, weil in diesem Punkt dem Kläger Beweiserleichterungen zugute kommen. Diese ergeben sich aus der schwierigen beweisrechtlichen Lage des Klägers, die ihm sonst die Beweisführung für (hypothetische) Vorgänge aufnötigte, die sich in der Sphäre des Beklagten abgespielt haben. Hier muß es genügen, wenn nach dem vom Gericht zu würdigenden Tatsachenstoff die naheliegende Möglichkeit besteht, daß bei pflichtgemäßem Verhalten der Behörde der eingetretene Schaden vermieden worden wäre. Davon durfte hier das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei ausgehen.
Urteil vom 21. Oktober 2004 – III ZR 254/03
Karlsruhe, den 21. Oktober 2004
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Ergänzende Dokumente
Urteil des III. Zivilsenats vom 21.10.2004 - III ZR 254/03 -