1. Strafsenat: Urteil im "Haustyrannen"-Mordfall aufgehoben
Ausgabejahr 2003
Erscheinungsdatum 25.03.2003
Nr. 43/2003
Nr. 43/2003
Das Landgericht Hechingen hat die Angeklagte wegen Heimtückemordes zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt.
Nach den Feststellungen des Landgerichts erschoß die Angeklagte ihren schlafenden Ehemann F. mit dessen Revolver. Mit der Tat beendete die Angeklagte die jahrelangen, sich steigernden Gewalttätigkeiten und Demütigungen, die sie durch F seit Beginn ihrer Beziehung 1984 zu erdulden hatte. Anfangs versetzte F der Angeklagten Ohrfeigen, später Faustschläge und Fußtritte. Seit Mitte der 90er Jahre schlug er sie, wann immer er meinte, sie habe etwas falsch gemacht. Dabei erlitt die Angeklagte schwerwiegende Verletzungen. So trat er ihr in den Bauch, während sie mit der gemeinsamen zweiten Tochter schwanger war. Er fügte ihr eine Nierenquetschung zu, die stationär behandelt werden mußte. Ein anderes Mal schlug er ihren Kopf derart heftig gegen eine Zimmerwand, daß er selbst annahm, er habe sie getötet. Seine Gewalttätigkeiten steigerten sich nach der Eröffnung einer von den Eheleuten gemeinsam betriebenen Gaststätte im April 2001 weiter. Sie richteten sich nun auch gegen die beiden gemeinsamen Töchter. Die Angeklagte fand kaum mehr Schlaf, weil sie F neben ihrer Tätigkeit in der Gaststätte in jeder freien Minute "bedienen" mußte - sie hatte ihm u.a. die Kleidung herzurichten, ihn pünktlich zu wecken und in der Badewanne zu waschen. Die Angeklagte geriet alsbald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie verfiel körperlich und seelisch, magerte ab und erlitt einen Monat vor der Tat eine Fehlgeburt. In den letzten beiden Tagen vor der Tat mißhandelte F die Angeklagte schwer. Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, trat auf die am Boden Liegende mit Springerstiefeln ein und biß sie in die Wange. Die Angeklagte empfand ihre Lage als ausweglos und fürchtete weitere schwerste körperliche Beeinträchtigungen für sich und ihre Kinder. Sie entschloß sich daher ihren Ehemann zu töten. Selbst bei Inanspruchnahme fremder Hilfe hielt sie es nicht für möglich, sich von ihrem Mann zu trennen. Denn F, der "Präsident" verschiedener Rockergruppen war, hatte ihr für diesen Fall oder den einer Strafanzeige wiederholt angedroht, er werde ihr und den Kindern Gewalt antun oder sie sogar töten. Dazu könne er seine weitverzweigten Rocker-Beziehungen selbst aus dem Gefängnis heraus nutzen.
Das Landgericht hat zwar das Mordmerkmal der Heimtücke als erfüllt angesehen. Wegen der Mißhandlungen und Demütigungen, die die Angeklagte von dem Opfer erdulden mußte, hat es die lebenslange Freiheitsstrafe, die das Gesetz bei Mord vorsieht, jedoch nach den Grundsätzen gemildert, die der Bundesgerichtshof (BGHSt 30, 105) bei Vorliegen "außergewöhnlicher Umstände" entwickelt hat, und die Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt.
Auf die Revision der Angeklagten hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshof das Urteil aufgehoben. Zwar hat das Landgericht zu Recht einen Heimtückemord angenommen und Notwehr ausgeschlossen. Es hat jedoch nicht geprüft, ob die Regelung über den entschuldigenden Notstand in § 35 StGB eingreift. Anlaß zu dieser Prüfung bestand, weil die Angeklagte und ihre Kinder sich wegen der drohenden Mißhandlungen durch F in einer gegenwärtigen, andauernden Gefahr für Leib und Leben befanden.
Der neue Tatrichter wird danach die Frage zu beantworten haben, ob der Angeklagten die Inanspruchnahme staatlicher oder sonstiger Hilfe zur Abwendung der Gefahr zuzumuten war. Sollte er dies bejahen, wird es darauf ankommen, ob die Angeklagte sich über die Frage anderer Abwendungsmöglichkeiten irrte und ob sie diesen Irrtum vermeiden konnte.
Urteil vom 25. März 2003 - 1 StR 483/02
Karlsruhe, den 25. März 2003
StGB § 35 Entschuldigender Notstand
(1) 1Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. 2Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.
(2) 1Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. 2Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501